Lese-, Schreibkurs in der 1. Klasse
Wir lernen lesen und schreiben
Aus dem integrativen Unterricht der ersten Klasse
Bernd Peukert
Mit einem schnellen Blick haben Sie diese Zeilen erfasst und den Sinn entnommen. Mühelos erkennen Sie längere Textpassagen ganzheitlich, denn der tägliche Umgang mit dem geschriebenen Wort lässt uns zu Meistern im Wiedererkennen werden. Das folgende Wort ist nun von rechts nach links geschrieben.
E F L I H S G N U R E D E I L G H C R U D T R O W
Wie sah es hier mit dem Lesetempo, dem ganzheitlichen Erfassen aus? Die ungewohnte Leserichtung ist nur eine kleine Erschwernis für uns. Sie kann aber etwas verdeutlichen, nämlich wie schwer es für einen Schulanfänger sein muss, wenn zum Erlernen der Leserichtung noch Unsicherheiten bei der Zuordnung von Laut und Schriftzeichen und Schwächen in der Lesetechnik hinzukommen.
Der Leselehrgang beginnt mit einer etwas besonderen Einführung der Buchstaben. Die Schriftzeichen werden nicht als abstrakte Gebilde gegeben, sondern z.B. mit einem emotionalen Erlebnishintergrund aus einem Bild gewonnen. Dabei bilden die Vokale im Alphabet eine besondere Gruppe. Es sind „Seelenlaute“, da wir mit ihnen Gefühle und Empfindungen äußern:
A, da sind sie ja!
O, hast du dich gestoßen?
U, ist es heute kalt!
E, was soll denn das?
I, das ist nicht schön!
In den Konsonanten, den „Plastizierern“, spiegelt sich eine andere Beziehung des Menschen zur Welt. Konturen, Gesten, Bewegungen, die Beschaffenheit der äußerlich wahrnehmbaren Welt werden durch sie abzeichnet. So verraten z.B. die Wörter „Rinde“ und „Borke“ sehr viel von dem, wofür sie stehen, denn ihre Laute charakterisieren unmittelbar das, was die Birkenrinde von der Kiefernborke unterscheidet.
Beispiele aus der ersten Schreibepoche
Tafelbildbeispiele:
Das Tafelbild zeigt den lila Engel, der mit staunender Gebärde die Arme öffnet. Er schenkt uns mit seinem Laut „A“ das erste Buchstabenzeichen, das lila „A“, das wir aus seiner Gebärde herauslösen.
Bei den Konsonanten liefert die konkrete Welt die Bilder für die Buchstabengewinnung. Ein Beispiel für die Einführung des „L“:
Es war einmal ein alter, weiser König. Er merkte, dass seine Zeit nun bald kommen werde, da er die Augen für immer schließen sollte. Der König aber hatte keinen Erben. Was sollte aus seinem Reich werden? Er ließ schließlich alle Edelleute zu sich kommen und sprach zu ihnen: „Ich will euch eine Aufgabe stellen. Wer sie am besten löst, soll mein Nachfolger und Erbe sein.“ Und er sprach weiter: „Wer über Nacht diesen Rittersaal mit dem Schönsten und Kostbarsten ausfüllen kann, soll der neue König werden.“
Nur drei Edelleute blieben und wollten sich dieser Aufgabe stellen. Der erste füllte den Raum mit kostbarsten Ritterrüstungen und Waffen, mit denen er das Volk beschützen wollte. Der zweite hatte in der folgenden Nacht den ganzen Saal mit einem Goldschatz gefüllt, wie ihn der König nie zuvor gesehen hatte. Konnte es da noch etwas Kostbareres geben? Am dritten Morgen ging der König gespannt in den Saal. Sprachlos verharrte er in der Tür. An der Wand war nur ein Leuchter mit einer kleinen Kerze angebracht. Das warme Licht füllte den ganzen Raum aus. Bis in die dunkelste Ecke drang es. Nun musste der König entscheiden, welcher Edelmann die Aufgabe am besten gelöst hatte. …
In dem folgenden Gespräch dachten wir über die Bedeutung des Lichtes für Pflanze, Tier und Mensch nach. Was würde geschehen, wenn es kein Licht mehr gäbe, die Sonne nicht mehr für uns scheinen würde? … Anschließend zeichneten die Kinder das Tafelbild vom Leuchter in ihr Heft, und am nächsten Tag schenkte uns das Bild den Buchstaben, mit dem die Wörter „Leuchter“ und „Licht“ beginnen. In diesem Dreierschritt: Geschichte – Bild – Buchstabe werden alle Buchstaben der Reihe nach eingeführt.
Tafelbildbeispiele zu Geschichten von Däumlings Reisen:
In folgenden Unterrichtsstunden legten wir die gelernten Buchstaben mit einem Seil auf den Boden und liefen sie ab. Viele Male schrieben wir sie in den Sandkasten, den jedes Kind zum Arbeiten bekam. Wir kneteten sie aus Wachs, backten sie aus Plätzchenteig, aßen und „verinnerlichten“ sie dann. Das Ertasten von großen Buchstaben aus Holz und schließlich das fleißige Schreiben ins Heft sollte natürlich auch nicht unerwähnt bleiben.
Lesehilfen und Differenzierungsmaßnahmen
Die Schritte zum Lesenkönnen sind bei Kindern unterschiedlich lang. Während es dem einen schnell zufällt, benötigt das andere viel Unterstützung auf seinem Weg. Ganz verschiedene Sinnesbereiche werden bei den folgend beschriebenen Lesehilfen angesprochen.
Die Vokale oder „Klinger“ lernen die Kinder von Beginn an, in bestimmten Farben zu schreiben. Jeder Klinger hat seinen ganz eigenen Farbklang: das „A“ (lila Engel) wird stets mit dem lila Stift geschrieben, das „O“ (roter Engel) rot, das „E“ (grüner Engel) grün, das „I“ gelb und das „U“ blau. Die Konsonanten, die „Mitklinger“, schreiben wir bei der Buchstabeneinführung „farblos“ braun. Im Wort aber färben die Klinger, ihrem Farbklang entsprechend, ihre Silbe ein. Das Wort „integrative Schule“ sieht dann folgendermaßen aus:
Integrative Schule
Die farbige Darstellung hilft das Wort ganzheitlich zu erfassen und bietet eine nicht hoch genug einzuschätzende
Wortdurchgliederungshilfe
Das lange Wort wird in zu bewältigende Leseabschnitte gegliedert und hilft entscheidend beim Abbau der Leseangst: Ein so langes Wort bekomme ich ja nie heraus!
Das Erlernen der Lesetechnik fällt nur sehr wenigen Kindern ohne besondere Übung zu. Neben der Wortdurchgliederungshilfe durch die Farben erhalten sie deshalb eine weitere, eine motorische Hilfe. Sofort mit der Einführung des Buchstabens lernt das Kind ein unmittelbar einsehbares Handzeichen dazu. Es kann schnell mit einer Hand gegeben werden, während die andere auf den zu lesenden Text zeigt. Die Handgebärden sind zum Beispiel von einer typischen Gestik, die zum Laut passt (O, M…), von einer Bewegung (K, P…), von der Mund- (A…) oder Zungenstellung (L…) abgeleitet.
Die Handgebärden helfen dem Kind in dreifacher Weise:
- Sie können Mittler zwischen Schriftzeichen und Laut sein. Die Handzeichen helfen, Laute zu erinnern.
- Sie unterstützen die Mundmotorik und damit eine gute Artikulation.
- Sie sind eine wunderbare Hilfe bei der Synthese zweier Laute. Die Handbewegung und die damit vorbereitete Mundbewegung legen den folgenden Laut direkt in den Sprachfluss, so dass die Synthese fast automatisch erfolgt.
Damit ist der erste ganz große Schritt zum Erlernen der Lesetechnik getan. Mit Hilfe der „Buchstabenrutsche“ üben wir die Synthese. Ein Konsonant, z.B. das „L“, rutscht (die linke Hand zeigt) die Rutsche hinunter und soll vom „A“ aufgefangen werden. Die rechte Hand zeigt zunächst die Handgebärde des „L“ und geht dann in die A-Gebärde über. Die Lippen brauchen sich nur zum „A“ öffnen, und schon ist die Synthese vorhanden.
Buchstabenrutsche
Die Buchstaben L, M, S, F, N, R, W eignen sich für diese Übungen besonders gut, da sie so lange gesprochen werden können, bis das Kind den zweiten Laut anzuhängen bereit ist. Weitere Beispiele, wie in spielerischer Art die Synthese zweier Laute im Unterricht geübt werden kann:
Während ein „Mitklinger“ die Bank herunter rutscht, lautieren die Mitschüler diesen Buchstaben und hängen beim Auffangen durch den „Klinger“ dessen Laut an:
„LLLLLLLLL-O“
Buchstabenschaukel
Buchstabenblume
Das in der Kreismitte stehende Kind wählt sich einen Partner. (Regel: Klinger wählt Mitklinger, bzw. Mitklinger wählt Klinger). Das hineinspringende Kind (A) versucht, im Sprung den eigenen Laut mit dem des Partners zu verbinden. Nun nimmt das (R) den zuvor äußeren Platz des (A) ein. Der Übungserfolg dieses Spieles ist sehr groß, da in kurzer Zeit sehr viele Synthesen vorgenommen werden.
Das „L“ läuft herum, …
Nach der Spielregel von „Der Plumpssack geht rum“ wird „Das „L“ läuft herum“ gespielt. Alle Kinder unterstützen dabei den Fänger, indem sie seinen Buchstaben lautieren und im Augenblick des Fangens den Laut des Gefangenen anhängen.
Eine Syntheseübung, die sich besonders für häusliche Übungen eignet, ist die Arbeit mit dem „Lesefenster“. Hier werden Pappstreifen mit Buchstaben in einer kleinen Laufschiene hinter dem Fenster herunter gezogen. Die Aufgabenfülle ist recht vielfältig.
Schon in der zweiten Lese- u. Schreibepoche kann mit den Vokalen und den Buchstaben L, M, und S das Lesen geübt werden. Aus ihnen lassen sich viele Wörter bilden, die sich die Kinder mit Hilfe der Handzeichen erlesen können.
Wie lange wird nun an der Tafel und in den Heften farbig geschrieben?
Der Tafelanschrieb bleibt so lange farbig, bis alle Kinder der Klasse lesen können, entsprechend lange schreiben sie mit den Farbstiften im Heft. Erst wenn Analyse und Synthese im Leseprozess vom Kind bewältigt werden, darf es zur einfarbigen Schrift und zur Schreibschrift wechseln.
Wie sehen die Übungsschritte im Schreiben aus?
Zunächst wird der neu eingeführte Buchstabe isoliert, aber auch im Wort tüchtig geübt. Je nach Möglichkeit des Kindes ist dabei eine Handführung des Klassenlehrers oder des Klassenhelfers nötig, die dann in eine Nachspur einer vorbildlichen Buchstabenform übergehen kann. Selbstständige farbige Abschriften folgen mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden.
Es gibt viele methodische Wege, Kindern das Lesenlernen zu ermöglichen, und jede gute Hilfe hat ihre Daseinsberechtigung. Ein Weg ist immer so gut, wie der Lehrer ihn innerlich überzeugt und begeistert mit den Kindern gehen kann.